Laura Valenti
Es ist wieder soweit: Mein Koffer ist gepackt, die dicksten Winterkleider inklusive Arktisausrüstung sind verstaut und nun heisst's "Auf in den Norden". Der Flug bringt mich von Zürich nach Oslo (wo ich den zappelnden Klaus-Dieter treffe), nach Tromsø, dann weiter nach Longyearbyen, Spitzbergen. Der Landung dort oben sehe ich mit einiger Anspannung entgegen. Auf einer Eispiste zu landen ist doch seltsam... Aber der Pilot landet das Flugzeug sanft und sicher - Gott sei Dank! Das Wetter ist zwar bewölkt, aber die Temperaturen sind angenehm "warm". Und so brechen wir knapp eine Stunde nach unserer Landung zu einem zweistündigen Spaziergang durchs Dorf auf. Wir akklimatisieren uns langsam. Das Abendessen im Hotel bringt dann doch eine große Überraschung, allerdings nicht auf kulinarischer Seite (Das Essen hier oben ist immer ausgezeichnet): Innerhalb weniger Minuten schlägt das Wetter um, weg ist das "milde" Klima. Statt dessen bricht ein furchterregender Sturm aus. Der Wind heult mit hoher Geschwindigkeit, Schnee und Eis werden aufgewirbelt, man sieht praktisch nichts mehr. Und der Wind heult und heult, und zwar so laut, dass man trotz der hervorragenden Isolation der Fenster die Stimme deutlich heben muß, um sich weiter unterhalten zu können. Zum Glück hat es vor wenigen Stunden bei unserer Landung nicht so gestürmt...
Draussen möchte ich im Augenblick weiss Gott nicht sein. Der Sturm dauert 14 Stunden, ich träume die ganze Nacht dass ich im Zelt liege und es draussen stürmt. Am nächsten Morge ist der ganze Spuk vorbei und wir können problemlos eine vierstündige Schneescootertour machen. Aber eins hat uns der Sturm gelehrt: Die Arktis hat viele Gesichter und dieses eine Gesicht lernt man draussen besser nicht kennen.
Wir müssen um 8:15 beim Schneescooterverleih sein, es ist noch dunkel draussen, so langsam setzt die Morgenröte ein. Die Farben sind spektakulär. Es zieht uns in die weite, offene Schneelandschaft. Unterwegs sind wir zwei mit einem Guide, der, wie letztes Jahr, einen Zusatzschlitten mit allerlei Notfallausrüstung (Notfallbiwakierzelt, Ofen, Planen gegen Unterkühlung, Essen, Sprit, Schaufel, Pickel, Notpeilsender, Satellitentelefon, Gewehr etc.) mitführt. Håkan, unser Guide, kennen wir noch vom letztem Jahr, es ist schön ein bekanntes Gesicht zu sehen. Die Welt hier oben ist eben klein. Wir fahren über Gletscher, vereiste Flüsse, an spektakulären Eisformationen vorbei nach Coles Bukta (Kohlebucht). Hier wurde vor Jahren die Kohle, die in einer jetzt stillgelegten Kohlemine abgebaut wurde, verschifft und nach Russland exportiert. Zurückgeblieben ist eine ausgestorbene, gespenstig aussehende Siedlung. Der Blick, an diesen halb verfallenen Häusern vorbei aufs vereiste Meer, im Hintergrund die Berge, alles von Pastellfarben umgeben, ist wirklich atemberaubend. Die Farben sind in diesem Jahr überhaupt anders als letztes Jahr, die Töne weniger grell, dafür viel sanfter, pastellfarben eben. Wirklich, die Arktis hat viele Gesichter.
Ein anderes Gesicht hat sie uns am Tag darauf gezeigt. Wir sind wieder mit Håkan auf Schneescootern unterwegs. Das Wetter ist so la la, es ist ziehmlich bedeckt und neblig. Die Fahrt ist anspruchsvoll, da beim Schneesturm vor zwei Tagen viel Neuschnee gefallen ist und wir bis übers Knie im Schnee versinken. Unter solchen Bedingungen Schneescooter zu fahren ist gar nicht so einfach: Eine Kurve, d.h. das Drehen der Lenkstange braucht viel Kraft, wir haben beide noch Muskelkater von der gestrigen Fahrt. Die Sicht ist schlecht und man braucht eine ganz bestimmte Geschwindigkeit um mit dem Scooter nicht im Schnee stecken zu bleiben. Ist man zu langsam bleibt man stecken, ist man hingegen zu schnell, fährt man bei dieser schlechten Sicht in einen Schneehügel und bleibt ebenfalls stecken... Håkan, der vorausfährt, hat es am schwierigsten (einem Scooter zu folgen ist wesentlich einfacher) - uind bleibt prompt stecken - zu unserem Erstaunen. Nun ist schaufeln, ziehen, stoßen angesagt. Nach 30 Minuten haben wir es (und sind) geschafft - wir fahren weiter. Aber schon nach kurzer Zeit müssen wir umkehren. Der Nebel ist so dicht geworden, dass man praktisch nichts mehr sieht. Es gibt kein oben und unten mehr. Alles ist weiss. Meine Füße erkenne ich kaum noch. Håkans Scooter hat ein GPS, mit dessen Hilfe finden wir den Weg zurück.
Bei unserem Spaziergang am ersten Tag haben wir versucht Kompass mit
GPS-Punkten zu vergleichen. Die Kompassnadel zeigte aber erstaunlicherweise
alle zwei Meter in eine andere Richtung. Bestenfalls war die Deviation
10 Grad... Der Boden enthält soviele Schwermetalle, dass der Kompass
nicht zu gebrauchen ist. Und die meisten GPS-Geräte funktionieren
bei wirklich tiefen Temperaturen nicht. Aber Håkans GPS schon und
wir kommen heil an. Wieder ein Wetter, bei dem man sich drinnen sicherer
fühlt als draussen. Wenn der Eisbär gekommen wäre, hätten
wir ihn erst gesehen, wenn er unmittelbar vor uns gestanden wäre...
Naja...
Wie immer läuft mir bei kalten Temperaturen die Nase. Ich brauche
viele Papiertaschentücher und stecke sie in die Innentasche des Overalls.
Nach unserer Tour realisiere ich, dass meine Taschen so schwer geworden
sind. Ich staune nicht schlecht, als ich die gebrauchten Taschentücher
fortwerfen will: sie sind zu Eiskugeln gefroren!?! Arktis...
Am nächsten Tag schauen wir voller Erwartung aus dem Fenster: Ist es wieder so neblig? Nein, etwas weniger. Wir beschließen aber heute eine kürzere Schneescootertour zu machen (falls die Sicht wieder so schlecht ist) und dafür um 16:00 Hundeschlitten fahren zu gehen (die Hunde finden immer zurück...). Die Scooterfahrt ist sehr schön. Wir fahren an ein zugefrorenes Fjord, die Sicht ist gut und wir geniessen in Ruhe die Stille, Weite, das Unendliche dieser Landschaft. Wir haben das Gefühl, ans Ende der Welt angelangt zu sein.
Die Hundeschlittenfahrt ist ein Erlebnis. Im Gegensatz zu letztem Jahr
sind wir nicht Passagiere, sondern aktive Teilnehmer am ganzen Unternehmen.
Es beginnt damit, dass wir die Huskys an den Schlitten festmachen müssen
(!?!). Der Guide zeigt uns, wie man die Hunde zwischen den Knien festhält,
ihnen das Geschirr anzieht. Die Hunde sind ganz aufgeregt, aber sehr anhänglich
und gut führbar. Das ganze geschieht bei Dämmerung, alles erscheint
so märchenhaft, unwirklich. Diese Farben, die prächtigen Hunde
und wir bei der Arbeit...herrlich!
Wir bekommen Stirnlampen. Ilias, der Guide, erklärt, wie wir den
Schlitten fahren sollen (wir fahren selbst - schluck!) und los geht's.
Die Hunde haben Spaß am Rennen, ziehen gut, alles ist lautlos, nur
das Hecheln der Hunde, das Knirschen der Kufen im Schnee, die Umrisse der
Berge, der Mond - unbeschreiblich. Wir löschen die Stirnlampen und
fahren im Mondschein - wie bei 1001 Nacht.
Sehr meditativ kommen wir wieder an, kurz vor der Ankunft am Zwinger
huscht ein anderer Hundeschlitten an uns vorbei, man sieht nur die Silhouette
der Hunde, dann den Schlitten, alles völlig lautlos, und weg sind
sie. Unwahrscheinlich schön.
Und dann angekommen heisst's "an die Arbeit": Hunde ausspannen, zu
ihrer Hütte bringen und füttern. Jeder Hund bekommt einen gefrorenen
Lachskopf. Ein Leckerbissen, wie man uns versichert...
Die letzte Tour ist wieder eine Schneescootertour. Diesmal mit einem anderen Guide. Er führt uns auf einen Aussichtshügel (leider hatten wir wegen Dunst nicht viel von der Aussicht...), die Fahrt nach oben ist abenteuerlich. Denn der Tiefschnee macht uns allen zu schaffen., wieder versenkt der Guide seinen Scooter in fast hüfthohem Schnee. Das Ausgraben ist sehr anstrengend, wir brauchen fast 45 Minuten, bis wir wieder frei sind. Kaum frei, stecken wir schon wieder fest... Wir sind fix und fertig. Zu allem Übel funktioniert an meinem Scooter die Griffheizung nicht. Das und die Anstrengung des Schaufelns bringt mich in eine beträchtliche Unterkühlung und Unterzuckerung! Ich spüre trotz Umherspringen meine Füsse nicht mehr und habe einfach nur noch kalt. Biscuits helfen nur bedingt. Das einzige, was hilft, ist die Wärme des Motors (ich setze mich auf die Haube) und Klaus-Dieters Scooter (wir tauschen Scooter) mit gut funktionierenden Griffheizungen. Interessanterweise wärmt das wieder meine Füsse - an den Händen hatte ich gar nie kalt. Kalte Füsse mit drei Paar Socken und sehr warmen Stiefeln... Erstaunlicherweise hatte ich solche Probleme mit dem Wärmehaushalt, dass die Innenseite meiner Skibrille eine 5 mm dicke Eisschicht trug.
Die Arktis hat wirklich viele Gesichter, dieses Jahr ganz andere als im 2002. Überheblichkeit ist hier fehl am Platze. Die Natur ist so mächtig und gefährlich - aber auch atemberaubend schön. An unserem Abflugtag ist es wie letztes Jahr kalt, aber schön. Entsprechend spektakulär ist der Abflug.
Und nun bin ich wieder zu Hause, 50 Grad Temperaturunterschied, ich
sitze im T-Shirt auf dem Balkon (bei 10 Grad), habe alle Fenster geöffnet,
die Heizung abgestellt und schwitze trotzdem. Die Augen tränen, das
grelle Licht ist gewöhnungsbedürftig.
Wir waren wirklich in einer anderen, verrückten Welt - aber wie
schön sie doch ist, so unbeschreiblich schön.